@Gysi: So, wie Du die Frage 1 stellst, macht sie wenig Sinn, auch wenn ich verstehe, warum Du so fragst. Das Buch Exodus ist fast eintausend Jahre nach den Ereignissen geschrieben worden. Dafuer wurden verschiedenste Elemente aus Mythos, Legende und Geschichte miteinander verwoben, so dass einige Elemente nur noch schemenhaft erkennbar sind. Mehrere Jahrhunderte Erzaehltradition machen so etwas aus geschichtlichen Erinnerungen.
Dass kanaanaeischen Staemmen im Nildelta in Hungerjahren Weiderechte im Nildelta eingeraeumt wurden, ist historisch belegt. Im Norden Aegyptens wurden sie bald so zahlreich, dass sie dort waehrend der 13. Dynastie die Kontrolle uebernahmen, was dann in den Hyksos-Pharaonen muendete, die Nordaegypten direkt und Suedaegypten wohl zumindest teilweise als abhaengiges Gebiet als 15. aegyptische Dynastie beherrschten (gleichzeitige suedaegyptische Dynastien waeren die 16. und 17.). Ein "Joseph" aehnlicher Name ist als Gaufuerst im Delta ueberliefert (muss nicht "der" Joseph sein, aber erklaert zumindest solche Geschichten). Bei den Kriegserzaehlungen sind dann Erzaehlungen beider Seiten vermischt worden. Das erklaert sich unter anderem daraus - wovon die Bibel rein gar nichts weiss - dass Kanaan unter dem zweiten Nachfolger Ahmoses fuer dreihundert Jahre unter aegyptische Herrschaft fiel und einige Geschichten von Vasallen-Koenigen der Aegypter in Kanaan ueberliefert wurden, andere von Nomadenstaemmen.
Die 17. thebanische Dynastie (also Suedaegypten, geographisch denke Luxor und Karnak) begann den Befreiungskrieg Aegyptens. Die Hyksos-Herrscher hatten ihr Zentrum rund um das nordaegyptische Memphis und waren ebenfalls Pharaonen mit aegyptischen Thronnamen, -siegeln etc. Dort hatte sich eine kanaanaeisch-aegyptische Mischkultur entwickelt, ihr Hauptgott war ein Baal (wieh Jahwe), wohl Baal-Zaphon, der mit dem damals noch prominenten aegyptischen Gott Seth gleichgesetzt war. Auch aegyptische Mythologie aenderte sich als Folge des Konflikts (Seth wurde "boese", die fuer ihn agierende Schlange Apophis hat denselben Namen wie einer der Hyksos-Koenige, Apopi I., und der Schlangenkult im Tempel Salomos ist auch in der Bibel anlaesslich seiner Abschaffung erwaehnt). Man muss sich also vergegenwaertigen, wenn der Bibeltext einfach "Pharao" ohne Qualifikation verwendet, koennen im Prinzip beide Seiten gemeint sein: Sowohl die Herrscher in Theben als auch die in der Hyksos-Hauptstadt Auaris im Ost-Delta trugen den Titel "Pharao". Wenn also "Pharao" gewinnt oder verliert, weiss man nicht, wer gemeint ist; das hing wohl vom Erzaehler ab.
Ahmose I. fuehrte die Endschlachten der Befreiung. Von seiner Taktik erfahren wir wenigstens teilweise aus einem Grab eines seiner Generaele, der auch den Namen Ahmose trug. Um den Versorgungsstrom aus Kanaan abzustellen, wurde Auaris von Kanaan abgeschnitten, wobei in Schlachten an den Bitterseen oestlich des Delta die Hyksos entscheidend geschlugen wurden (das Gebiet der Bitterseen passt gut zu der Schlacht am Schilfmeer, wo Moses die "Waesser teilt"). Gewinner war da also Ahmose. Was dann passierte, ist nur fragmentarisch ueberliefert. Auaris wurde wohl belagert, aber wohl nicht erobert, da dort keine Brandspuren zu finden sind. Es sieht so aus als sei ein freier Abzug nach Kanaan ausgehandelt worden. Mehrere hunderttausend Menschen kanaanaeischer Abstammung machten sich dann zurueck auf die Reise nach Kanaan, was ein paar Tage dauerte, nicht vierzig Jahre. Die Hyksos regierten dann weiter in einer Festung irgendwo oestlich oder suedoestlich von Gaza (drei moegliche Orte sind bekannt, aber nicht ausgegraben), die von Ahmose I. dann viele Jahre spaeter belagert und zerstoert wurde. Die Hyksos verschwinden dann aus der Geschichte, aber die Menschen wird's wohl weiter gegeben haben, teilweise als Bewohner kanaanaeischer Staedte, teilweise als Nomaden. Die Staedte wurden dann ein paar Jahrzehnte spaeter aegyptisch beherrscht.
Das naechste Element waere dann wohl Ramses II. (der Grosse). Der war Hyksos-Fan, baute seine Hauptstadt Pi-Ramesse direkt neben der alten Hyksos-Hauptstadt Auaris (die lag auf der gegenueberliegenden Flussseite) und liess wohl auch grosse Bilderserien der Ereignisse zur Hyksos-Zeit in seiner Hauptstadt anfertigen. Kanaan war damals unter aegyptischer Kontrolle, und wer auch immer dort zum Bau der Stadt angeheuert wurde oder die Stadt besuchte, muss wohl diese Bilderserien vor Augen gehabt haben. Und Fronarbeiten gab es zu der Zeit mit Sicherheit.
Das sind jetzt nur zwei Elemente, die in der Exodus-Erzaehlung verarbeitet wurden. Ansonsten gibt es viele weitere Einfluesse. Der "Plot" wurde wohl aus der spaeteren Koenigs-Geschichte Israels uebernommen, der Anlass war der Wiederaufbau des Tempels unter den Persern.
Bei 2 bin ich nicht sicher, was Du meinst, aber der Beitrag ist eh schon viel zu lang.
Zitat von UlanBei 2 bin ich nicht sicher, was Du meinst, aber der Beitrag ist eh schon viel zu lang.
Na. ich hatte so die Vorstellung, dass die aus Ägypten sich separierenden Juden (also die kanaanäischen Stämme oder Hyksos) in Okkupationskriegen im heutigen Israel die damals anwohnenden Stämme vertrieben, und dort dann Platz nahmen. Aber so kann das nicht gewesen sein, oder? Ich weiß nix, sorry. Wie soll ich z.B. die babylonische Gefangenschaft einordnen? Zu Nabuccos Zeiten, das weiß ich. Aber wann war die ägyptische '*Gefangenschaft'? War sie überhaupt eine Gefangenschaft? Wann wurde Israel gegründet? Wer gründete Israel? Wir hatten eben nur Religionsunterricht, der uns Kindern herzlich wenig interessierte...
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Zitat von ManningDie ägyptische Geschichte ist in Hieroglyphen recht gut dokumentiert. Eine Gefangenschaft der Juden gab es nicht.
Glaube ich dir gerne. Gut wäre es jedoch auch, eine jüdische Dokumentation mit der ägyptischen vergleichen zu können. Für die eine Seite mag eine Gefangenennahme eine Gefangenennahme sein - und für die andere Schutzhaft oder so was. So wie heute für Putin sein Angriff gegen die Ukraine eine 'militärische Operation' ist, aber für die Ukraine (und den Rest der Welt) eben ein Angriffskrieg!
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28.04.2022 11:18
#30 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Ahmose I. und die Vertreibung der Hyksos: ca. 1550-1525 V.Chr. Ramses II. mit dem Bau von Pi-Ramesse: Regierungszeit 1279-1213 v.Chr. Zusammenbruch der bronzezeitlichen Hochkulturen und ihrer "globalisierten" Wirtschaft: in der Levante ab ca. 1200 . Eroberung Kanaans durch israelitische Staemme: sehr langsam im Laufe der 300 Jahre danach. Besiedlung des durch den broznezeitlichen Kollaps freien Berglands (wo erstmals Israeliten nachgewiesen sind) um 1100 Babylonisches Exil der Elite Judas: 597-539 v.Chr. Verfassen des Buches Exodus: irgendwann bis 400 v.Chr. in der persischen Provinz Jehuda Medinata, als Jersualem ca. 500-1500 Einwohner hatte.
Das Buch Joshua ist, trotz der sehr siegestrunkenen Schilderungen, weitgehend reine Dichtung. Da gab es keine glorreiche Eroberung, sondern eine zaehe Landnahme; die archaeologischen Spuren zeigen Zerstoerungen von Orten, die sich ueber 300 Jahre erstrecken. Wer die fruehe Zeit der Israeliten in Kanaan in etwas realistischerer Art und Weise geschildert haben moechte, schaue auf das Buch Richter.
So kann man immer noch was dazulernen. Sogar so ein alter Sack wie ich!
Nur zum besseren Verständnis: Die Hyksos sind ein frühägyptischer Stamm, der sich später zu den Juden verselbständigte. Das war so vor dreieinhalbtausend Jahren. Und die 'Babylonische Gefangenschaft' der jüdischen Elite war vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren. 42 Jahre lang. Okay? Und dann kamen die Röner, die dann 70 n.Chr.das Land Israel komplett pulverisierten. Die haben aber auch immer auf die Fresse gekriegt, mammita mia...
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28.04.2022 22:29
#32 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Die Hyksos stammten zum groessten Teil von der Levante, also aus Kanaan und dem westlichen Syrien, waren also westsemitische Staemme aus der Gegend mit einer hurritischen Beimischung (denke an das spaetere Mitanni oder Urartu), oft in der Oberschicht. Die siedelten sich langsam ab etwa 1700 v.Chr. in Aegypten an, vor allem im Nildelta, bis sie dort so bestimmend waren, dass sie die Macht ergreifen konnten. Die Aegypter bezeichneten das immer als Fremdherrschaft. Das Wort "Hyksos" bedeutet "Herrscher der Fremdländer". Nach dem Abzug gingen sie so quasi "nach Hause". Deshalb war auch die Strategie des Ahmose entscheidend, im Laufe des Krieges die Verbindung des Deltas nach Kanaan zu blockieren.
Geschichtlich wird die Bibel so um 800 v.Chr., etwa mit Ahab von Israel. Israel (das Nordreich) war weitaus bedeutender als Juda, zumindest bis zur Zerstoerung Israels durch die Assyrer, wonach Juda dann aufstieg, nicht zuletzt durch einen grossen Fluechtlingszustrom.
Die "Babylonische Gefangenschaft" ist genau datierbar (siehe Daten oben), da in Mesopotamien genaue Aufzeichnungen gemacht wurden, die zu einem groesseren Teil erhalten sind. Betroffen war strikt nur die Elite. Die waren auch nicht irgendwie gefangen - abgesehen davon, dass sie nicht in ihre Heimat zurueckgehen durften - sondern wurden dort in mesopotamischer und persischer Tradition kulturell zum Teil assimiliert, damit sie spaeter als Gouverneure in den eroberten Provinzen wieder eingesetzt werden konnten. Die Anzahl der Rueckkehrer in persischer Zeit war verschwindend gering - die meisten dieser Leute waren mittlerweile das Leben in einer etwas zivlisierteren Umgebung gewohnt und hatten keine Lust auf eine elende Landpartie. Der juedische Glauben zeigt gewisse Elemente persischen Einflusses, und die Samaratiner beschwerten sich auch, dass sie nicht durch persische Handlanger regiert werden wollten, was dann spaeter zu dem Schisma fuehrte. Jerusalem blieb in persischer Zeit ein kleines Kaff.
Vor den Roemern kamen natuerlich erst mal die Griechen. Alexander der Grosse (wer kennt nicht die "333") eroberte Persien, und Judaea kam an die Ptoelemaeer, wurde also mal wieder aegyptisch (in hellenistischer Auspraegung). In juedischem Rueckblick wird die persische Zeit aeusserst positiv gesehen (Kyros der Grosse gilt im Judentum als ein Messias Gottes und wird in der Bibel so bezeichnet), aber auch die Ptoelmaeer-Zeit wurde immer noch wohlwollend beurteilt. In der hellenistischen Zeit wurde Jerusalem wieder zu einer groesseren Stadt, da die Ptolemaeer gegen die Seleukiden (ein anderer hellenistischer Staat mit Zentrum in Antiochia (Antakya) ein Bollwerk brauchten. 198 v.Chr. wurde Jerusalem dann seleukidisch, und die Seleukiden versuchten das Judentum abzuschaffen, was nicht gut ankam. Um 160 v.Chr. gab es den Makkabaeeraufstand, der dann zu einer langen Periode der Unabhaengigkeit des juedischen Staates fuehrte. Diese wurde dann 63 v.Chr. durch die Eroberung durch die Roemer beendet, was dann 37 v.Chr. die herodianische Dynastie als Vasallenkoenige an die Macht brachte.
Und dann kommt es zum ersten Juedisch-Roemischen Krieg, der 70 n.Chr. zur Zerstoerung Jerusalems fuehrte; es gab dann noch zwei weitere (115-117 n.Chr. und 132-135 n.Chr.). Der letzte davon hatte einen juedischen Messias als Anfuehrer.
Ulan
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28.04.2022 22:32
#33 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Zitat von Ulannteressant, was man alles aus "Ptolemaeer" machen kann. Nun ja, steht halt jetzt so da.
Ist ja auch gut so! Also, mir bringt das was. Und wie 'frei' die 'babylonische Gefangenschaft' dann doch war. Und dass nur ein Bruchteil wieder zurückging und die anderen freiwillig in Babylon blieben. Und dass auch die Besiedlung Ägyptens durch die späteren Juden keine Gefangennahme durch die Ägypter war. Und die Exodus-Geschichte daher auch kein Gnadenakt eines Pharao. Also, ich wusste das alles nicht! Danke für den wirklich qualifizierten Geschichtsunterricht!
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Ulan
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29.04.2022 14:12
#35 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Behalte aber im Hinterkopf, dass die Exodus-Geschichte nicht einfach "Hyksos und Ahmose" ist. Helmut-Otto mag es simpel moegen, aber Geschichtenerzaehlen geht oft verschlungenere Wege, wenn das ueber ein Jahrtausend passiert. Nicht umsonst wird das Ereignis der Fronarbeit durch kanaanaeische Arbeiter eher in die Zeit von Ramses des Grossen verortet, also ein paar hundert Jahre spaeter, als Kanaan fest in aegyptischer Hand war. Auch da stimmen die Details nicht (Pi-Ramesse war keine "Speicherstadt", sondern die neue Hauptstadt), aber Details muessen hier auch nicht stimmen. Es geht hier nicht um Geschichte, sondern um kollektive Erinnerungen an Geschichte.
Und irgendwo muss dann auch "Moses der Priester" hergekommen sein; Ahmose I. passt nicht in diese Rolle, nur seine Siege sind in Erinnerung, in Verbindung mit dem Auszug aus Aegypten. Was damit zu tun haben kann, dass der Name seines Gottes genauso klang wie die Kurzform von Jahwe, also irgendwelche Hymnen ueber ihn irgendwie passten.
Was soll man schon sagen ueber Gegenstaende, die sich in der Bundeslade befanden, also dieser Kiste mit Engelsfluegeln, die sich in einem Raum befand, den nur der Hohepriester betreten durfte, und auch das nur einmal im Jahr; und die praktischerweise wohl bei der Zerstoerung des Tempels durch die Babylonier 587 v.Chr. verloren gegangen sein muss, da sie danach nie wieder erwaehnt wird.
Es sei denn, Du glaubst der Aethiopisch-Orthodoxen Kirche, die die Bundeslade angeblich in einem Gebaeude in Aksum aufbewahrt, wo sie genauso praktischerweise niemand anschauen darf.
Die Rabbis koennen Dir nicht mal sagen, was auf den Tafeln draufstand. Mal sind's nur die "zehn" (wie auch immer man die zaehlt) Gebote, mal die ganze Tora. Letzteres ist zwar definitiv falsch, aber trotzdem die Annahme des normativen Judentums, einfach um auf Nummer Sicher zu gehen, dass man nicht versehentlich ein Gebot uebertritt.
Einige Religionswissenschaftler heute nehmen an, dass die Lade ein typisch aegyptischer Reisealtar war, in dem die Goetterstatuen aufbewahrt wurden. Dabei ist es gut moeglich, dass urspruenglich eine Jahwe-Kult-Figur darin aufbewahrt wurde (dass es solche Kultfiguren gab, steht so in der Bibel, und zwar im oben schon genannten Buch "Richter").
Ausserdem ist der Forschung bekannt, dass die Beschreibung der Bundeslade auffaellig dem Reisethron von Ramses II. (dem Grossen) entspricht, wie wir ihn aus einer Abbildung zu einer in der Antike sehr beliebten und verbreiteten Geschichte ueber die Schlacht von Kadesch kennen (es gibt sehr viele Manuskripte darueber). Die ganze darauf abbgebildete Anlage entspricht der biblischen Beschreibung des transportablen Wuestenheiligtums der Israeliten zur Nomadenzeit bis ins Detail, und der Thron ist halt eine kiste mit Fluegeln. Details der Schlacht von Kadesch, wo die Vernichtung eines Heers durch Flutung einer Flusspassage beschrieben wird, sind wohl auch in die Exodus-Geschichte gekommen. Kadesch liegt heute in Syrien, und die Schlacht richtete sich gegen die Hethiter. Die beiden Koenige als Heerfuehrer begingen dabei gleichermassen gravierende taktische Fehler, so dass sie sich in ein Patt manoevrierten, was in einem Friedensvertrag endete, der in einer langen "Brieffreundschaft" muendete, die uns noch heute ueberliefert ist. Die beiden mochten sich anscheinend. Natuerlich behauptete jeder zu Hause, er haette gesiegt, aber man kennt das ja.
Ich muss mich irgendwie noch mit deinen Relativierungen der babylonischen Gefangenschaft beschäftigen. Und ich denke dabei an den Gefangenenchhor von Verdi. Die historischen Wahrscheinlichkeiten nehmen dem seine ganze emotionale Wucht! Schade! Ein echter Kracher ist der, einer der Megahits der Klassik! Aber nun ja: Meine größte Liebe gehört der Wahrheit, und die gleicht den Verlust dann schon aus... Und wenn Werder gleich wieder gewinnen sollte, ist der Tag komplett gerettet...
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Ulan
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29.04.2022 20:42
#39 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Die Bibel selbst verbreitet ja solche Mythen, so dass dieses Missverstaendnis nicht unerwartet ist. "By the Rivers of Babylon", das manche von uns noch von Boney M kennen, ist ja letztlich der Text von Psalm 137. Aber das checkt ja schon in der Bibel nicht aus, wo steht, dass 4600 Leute weggefuehrt wurden; schon das klingt nicht nach dem "ganzen Volk Israel". Es wurden in drei Aktionen insgesamt diese wenige tausend Leute weggefuehrt, die Oberschicht halt, bis keiner mehr uebrig war, der noch Aufstaende anfuehrte.
In Babylon selbst durften sich die Neuankoemmlinge normal wirtschaftlich betaetigen, was auch durch babylonische Dokumente belegt ist, wo ab der Zeit juedische Namen in Vertraegen auftauchen. Sie durften Landwirtschaft oder Handel betreiben, Haeuser bauen, selbst Sklaven halten. Wer wollte, bekam eine Ausbildung im babylonischen Staatsdienst, und Exilanten machten Karriere im babylonischen Hofstaat und Militaer. Das Ziel eines solchen Exils war, die auslaendischen Eliten von der Ueberlegenheit der babylonischen Kultur zu ueberzeugen, damit sie dann spaeter in ihren Herkunftslaendern als Babylon- oder spaeter Persien-treue Beamte die dortige Bevoelkerung verwalten konnten, wobei erwartet wurde, dass die Bevoelkerung sie als "ihre eigenen Leute" behandeln wuerde, also nicht zu Aufstaenden neigen. So ueberschwaenglich positiv, wie sich die Bibel ueber die Perser auslaesst, hat das wohl auch gwirkt.
Nur gefiel es den Exilanten anscheinend zu gut in Babylon. Sie hatten sich ja jetzt auch oft eine lukrative Existenz in einer staedtischen Umgebung aufgebaut, und noch mal von vorne anzufangen war wohl nicht jedermanns Sache; dem folgten nur die religioes sehr Ueberzeugten. Persien selbst hat uebrigens zuerst versucht, die Provinz Jehuda mit dem Erben der davidischen Koenigslinie als Gouverneur zu fuehren. Nach Juda gegangen ist er wohl, aber nicht nach Jerusalem, sondern in ein anderes Kaff. Was aus ihm wurde, verraet uns kein Text; wir wissen nur, dass irgendwann der Tempel die Administration der Provinz uebernahm. Vielleicht ist der Thronfolger verstorben, aber ich kann mir auch gut vorstellen, dass der seinen neuen Posten in Judaea (Gesamtbevoelkerung etwa 13.000 Leute, Jerusalem 500) wie eine Verbannung nach Sibirien empfand und einfach um Erlaubnis gefragt hat, ob er nicht wieder zum Dolce Vita in Babylon zurueckkehren koennte.
Siehst du, jetzt sagt mir 'der Gefangenenchor' gar nichts mehr. Diese Tiefe, diese Kraft. dieser Schmerz, diese Sehnsucht -. alles weg! Und dann hat Werder gestern auch noch verloren! Gegen Kiel! Auf eigenem Platz! Nach einem 2:0-Vorsprung noch den sicheren Sieg aus der Hand gegeben! Und Schalke hat gewonnen! Was für ein grausamer Tag! (Nein, war doch nicht ganz so schlimm... )
Zitat "By the Rivers of Babylon", das manche von uns noch von Boney M kennen, ist ja letztlich der Text von Psalm 137.
Ja, Boney M war von Frank Farian ein großer Wurf. Starker Sound. Und wenn man schon selber keine guten Texte schreibt, dann hält man sich eben knapp und nimmt vor allem schon bekannte andere.
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Ulan
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30.04.2022 19:04
#41 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Der Gefangenenchor wird dadurch doch nicht weniger gut. Das ist doch das Geheimnis des Lebens: wir muessen uns doch gar nicht nur an Tatsachen halten, wir koennen die schnoede Realitaet durch unsere Traeume bereichern. Eine gute Geschichte schlaegt die schnoede Realitaet jedes Mal. Das ist doch auch das Geheimnis der Religion: Viele Menschen wollen sich schlicht nicht damit abfinden, dass sie sich ein Leben lang abrackern und dann in die Kiste fallen. Diese Menschen stellen sich dann lieber vor, dass da noch was kommt. Das "Paradies" bleibt ja auch seltsam vage, so dass es jeder mit seinen eigenen Sehnsuechten fuellen kann.
Das Bild der Erzaehlung ueber das Exil war immer stark und hatte eine enorme Wirkung auf reale Geschichte. Das alles kann der Erzaehlung niemand nehmen. Dass auch den Bibelautoren bewusst war, dass die Realitaet anders aussah, sieht man ja unter anderem am Bild der "Hure Babylon". Die enorme Attraktion der Welt ihres Exils hatten auch diejenigen Leute erlebt, die dann nach Israel zurueckgegangen waren. Deshalb mussten sie sich ja erzaehlen, dass die Versuchung es nicht wert gewesen waere und sie die richtige Entscheidung getroffen hatten.
Und ich nehme mal an, als Werder-Fan hat man's schwer ;-) .
Zitat von UlanDas ist doch das Geheimnis des Lebens: wir muessen uns doch gar nicht nur an Tatsachen halten, wir koennen die schnoede Realitaet durch unsere Traeume bereichern.
Fantasie ist gut, Hoffnung ist gut! Aber wenn die Realität die Fantasie ent-täuscht, taugt sie nichts mehr. Oder weniger, ist nun mal so. Aber auf neugewonnenen Realitäten kann man ja neue Fantasien aufbauen. Und Hoffnungen. Auf eine bessere Zukunft. Darauf, dass die Menschen es doch noch scbhaffen. Eine Welt ohne Kriege und Umweltzerstörung. Zum Bleistift. Und so fort.
Zitat Und ich nehme mal an, als Werder-Fan hat man's schwer ;-) .
JA!
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01.05.2022 10:32
#43 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Was ich meinte, ist folgendes: Die Fantasie hat ihren praktischen Zweck doch schon lange erfuellt in diesem Zusammenhang. Das Exil mag damals nicht tragisch gewesen sein, aber Vertreibung und Gefangenschaft war trotzdem Teil der Geschichte dieses Volkes, und das schon lange bevor der Gefangenenchor das Licht der Welt erblickte. Das Bild von Babylon bestimmte das Denken in roemischer Zeit, und damals schon machte es Sinn und gab den Menschen einen Anker, zusammen mit der Hoffnung, dass sich irgendwann alles zum Besseren kehren wuerde. Religioese Geschichten springen vor und zurueck ueber die Zeiten hinweg.
Schau Dir mal die Tradition von Pescher und Midrasch im Judentum an. Vielleicht wird so klar, wofuer diese Texte immer wieder dienten. Sie wurden immer wieder dann herausgekramt, wenn die Situation zu passen schien, und sie dienten als Grundlage eines Versprechens, an dessen Erfuellung man fest glaubte.
Zitat von UlanSchau Dir mal die Tradition von Pescher und Midrasch im Judentum an. Vielleicht wird so klar, wofuer diese Texte immer wieder dienten. Sie wurden immer wieder dann herausgekramt, wenn die Situation zu passen schien, und sie dienten als Grundlage eines Versprechens, an dessen Erfuellung man fest glaubte.
Na gut. Man kann es so und so sehen, und am Ende haben beide recht. Musik und Literatur sind dazu da, den eigenen Gefühlen eine Sprache, einen Klang oder ein Bild zu geben. Eine Bewusstheit, eine Eigenreflexion. Wenn du losheulst dabei, funktioniert's, wenn du dabei einpennst, nicht. Die Aufgabe zu erfüllen, ist nicht Verdi alleine aufgehalst. Aber er hatte der Dämonisierung der Babylonier und nur der Heimatsehnsucht der Hardcore-Juden entsprochen. Obwohl - gezwungen zu sein, seine vertraute Umgebung und seine Verwandten und Vertrauten nicht mehr wiederzusehen - das ist schon für jeden Vertriebenen eine harte Fremdbestimmung.
Zitat Das Bild von Babylon bestimmte das Denken in roemischer Zeit, und damals schon machte es Sinn und gab den Menschen einen Anker, zusammen mit der Hoffnung, dass sich irgendwann alles zum Besseren kehren wuerde.
Hoffnung ist ja der Treibstoff aller Religionen. Darum glaubt man doch so gerne, um diese Hoffnung nicht zu verspielen. Aber wer nicht mehr glaubt - so wie ich - dem nutzen salbungsvolle Gottworte und Jenseitsprophezeiungen nichts. Dafür glaube ich an die Menschen, statt an Gott, und bin so von einem Gottgläubigen zu einem Humanisten geworden. Das ist kein Verlust sondern ein Gewinn. Nur die Wirklichkeit verzaubert!
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01.05.2022 21:42
#45 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Ich bin nicht glaeubig, um das nur klarzustellen. Mir ging's einfach nur darum, aufzuzeigen, dass Geschichten ein Eigenleben haben. Auch fiktive Buecher oder Filme koennen uns tief ruehren, und wenn die Situation passt, dann erinnern wir uns an sie.
Ulan
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01.05.2022 21:44
#46 RE: Warum erfand der Mensch die Götterwelt oder den einen Gott?
Zitat von UlanIch bin nicht glaeubig, um das nur klarzustellen.
Na, das habe ich mir schon gedacht. Ich wollte dir auch nichts Böses unterstellen. Aber auch du bist so differenziert im Denken, dass du die Attraktivität der Religionen aufgrund ihrer Verlockung des Jenseitsangebotes für alle erkennst. Und die aufgrund der Tradierung und der immer noch bestehenden Religionserziehung für/gegen Kinder immer noch funktioniert.
Zitat OK, "fiktive Buecher oder Filme" war wohl falsch ausgedrueckt, aber Du weisst hoffentlich, was ich meine.
Ja, natürlich, klar.
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Die Jenseitsverheissung ist Machtpolitik. Sie soll Rebellionen gegen die herrschende Ausbeutung verhindern. Dem selben Zweck dienen Märchen. Belohnt wird stets, wer alles Leid klaglos erträgt!
Zitat von ManningDie Jenseitsverheissung ist Machtpolitik. Sie soll Rebellionen gegen die herrschende Ausbeutung verhindern.
Sehe ich auch so. Trotzdem ist dein Satz zu kurz gegriffen. Denn die Jenseitsverheißung war ja nicht neu. Die hohe Attraktivität des Christentums (gegenüber den anderen Religionen damals) war das Angebot des ewigen Jenseits für ALLE! Nicht nur für den Pharao oder die todesmutigen Krieger, die ins Walhalla kamen! Sowas wie ein Gleichheitsgrundsatz, nur erst mal auf religiöser Ebene. Aber er war auch eine Disziplinierungsanzeige: Seid willfährig, dann ist euch auch das ewige Heil beschieden!
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Zitat von ManningDie Jenseitsverheissung ist Machtpolitik. Sie soll Rebellionen gegen die herrschende Ausbeutung verhindern.
Sehe ich auch so. Trotzdem ist dein Satz zu kurz gegriffen. Denn die Jenseitsverheißung war ja nicht neu. Die hohe Attraktivität des Christentums (gegenüber den anderen Religionen damals) war das Angebot des ewigen Jenseits für ALLE! Nicht nur für den Pharao oder die todesmutigen Krieger, die ins Walhalla kamen! Sowas wie ein Gleichheitsgrundsatz, nur erst mal auf religiöser Ebene. Aber er war auch eine Disziplinierungsanzeige: Seid willfährig, dann ist euch auch das ewige Heil beschieden!
Soweit ich aus der Schule erinnere, konnte im Helenismus auch jeder in den Olymp aufsteigen. Man musste aber sehr gute Taten dafür machen.
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"Ich bin völlig anderer Meinung als Sie. Aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie sagen dürfen!" (Voltaire)
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